EU-Beitritt der Türkei
Statement des Hildesheimer Bischofs Dr. Josef Homeyer
In Artikel 6 des EU-Vertrages heißt es: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam."
Der Europäische Rat in Kopenhagen hat im Juni 1993 in den sog. Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten neben einigen wirtschaftlichen Bedingungen insbesondere festgelegt: "Als Voraussetzungen für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben". Zu den Grundlagen, auf die alle neuen Mitgliedsstaaten zu verpflichten sind, gehört auch die im Jahre 2000 verabschiedete Charta der Grundrechte der Europäischen Union, zumal, wenn diese in einen europäischen Verfassungsvertrag Eingang findet. Artikel 10 sichert hier die Religionsfreiheit, sowohl individuell als auch kollektiv.
Jeder Beitrittskandidat muss sich an diesen Kriterien messen lassen - so hat es die EU beschlossen und immer wieder bekräftigt, und so kann es auch nur sein, will die Rechtsgemeinschaft EU eine Wertegemeinschaft sein.
Dies gilt auch für die Türkei. Im Moment erfüllt sie diese Kriterien sicher nicht. Allenthalben werden der Türkei Verbesserungen bescheinigt, niemand aber behauptet, dass die Türkei die Kriterien bereits erfülle. Sicher war es auch den zehn Kandidaten, deren Beitritt jetzt ansteht, möglich, die Kriterien erst im Lauf der Verhandlungen zu erfüllen, doch galt dies weitestgehend nur für die wirtschaftlichen Kriterien, hinsichtlich der Demokratie und der Menschenrechte war die Messlatte von Anfang an höher, wie das Beispiel Slowakei zeigt.
Entscheidend ist die Frage, wann die Türkei die Kriterien erreicht und - noch wichtiger - ob sie sie je erreichen kann!
Im Einzelnen:
Hinsichtlich der Menschenrechte: Das türkische Parlament hat in den letzten 2 Jahren einige Verfassungsänderungen beschlossen, die eine Gewährleistung von Menschenrechten und Grundfreiheiten verbessern und die Verhängung der Todesstrafe eingrenzen. Diese Schritte wurden zu Recht von Seiten der Europäischen Union begrüßt, es wurde jedoch immer wieder auch deutlich gemacht, dass dieser Prozess weiter gehen muss und dass er insbesondere in die Praxis umgesetzt werden muss. Hinsichtlich der Ausübung der Grundfreiheiten gibt es nach wie vor zahlreiche Beschränkungen.
Hinsichtlich der Religionsfreiheit: Der laizistische Staat Türkei wird nicht im Sinne des aus Frankreich bekannten "Laizismus" einer Trennung von Kirche und Staat verstanden, sondern im Sinne einer Vereinnahmung der (sunnitisch islamischen) Religion durch den Staat. Die islamischen religiösen Führer sind beispielsweise Staatsbedienstete. Die in der Türkei gewährte Religionsfreiheit bedeutet für die Christen zwar eine Freiheit des Bekenntnisses, aber erhebliche institutionelle Beschränkungen. Der Neubau von Kirchen ist nahezu ausgeschlossen, selbst Renovierungen der bestehenden Kirchen sind nur mit Hindernissen möglich. Seit 1971 gibt es keine theologische Ausbildung für Christen innerhalb der Türkei mehr. Da gleichzeitig ausländische Priester in der Türkei so gut wie nicht tätig werden dürfen, bedeutet dies ein zunehmendes „Aussterben“ des Christentums in der Türkei. Priester aus dem Ausland können in der Türkei im Grunde nur im Rahmen einer diplomatischen Immunität und auch hier nur beschränkt wirken. Dies alles widerspricht der Religionsfreiheit, die zu den Kernbestandteilen der EU-Charta der Grundrechte gehört. Und es ragt ins Zentrum europäischer Identität, indem es das auf der Unterscheidung von Religion und Politik beruhende Verständnis vom Staat betrifft.
Daraus ergibt sich schließlich die wohl schwierigste Frage, die der Demokratie: Sie scheint in der Türkei immer noch nicht wirklich gefestigt zu sein und angesichts einer fast 75jährigen "Erprobungsphase" werden zumindest Zweifel laut, ob dies überhaupt gelingen kann. Wohl hat soeben ein durch demokratische Wahlen zustande gekommener Regierungswechsel stattgefunden, doch erscheint als die Sicherungsgröße für den säkularen Staat und die Demokratie immer noch das Militär. Weder aber ein religiös noch ein vom Militär bestimmtes Staatswesen sind mit dem europäischen Verständnis von Demokratie vereinbar. An dieser Frage wird sich wohl entscheiden, ob die Türkei überhaupt europafähig werden kann, oder ob die kulturellen Differenzen, die gerade im Verständnis von Mensch und Staat wesentlich auch durch die Religion geprägt sind, zu gravierend sind.
Angesichts der gravierenden Mängel gegenüber dem Kriterienkatalog von Kopenhagen stellt sich die Frage einer Aufnahme der Türkei in die EU derzeit nicht. Angesichts der Unsicherheit, ob die Türkei je im ausreichenden Sinn europäisch sein kann, dürfte auch die Nennung eines Termins für Beitrittsverhandlungen nicht möglich sein.
Die Türkei sollte aufgefordert werden, den Weg fortzusetzen und insbesondere hinsichtlich der Religionsfreiheit, auf die die EU baut, Fortschritte zu erzielen. Hinsichtlich der Religionsfreiheit muss institutionell und in der Praxis Reziprozität hergestellt werden. In der EU ist eine ausführliche Debatte über die Grenzen der EU dringend geboten.
Engere Assoziationen, die den wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen auch der EU entgegenkommen und auch die Wandlungsprozesse in der Türkei unterstützen, sind natürlich auch jetzt möglich und sinnvoll.
+ Josef Homeyer Bischof von Hildesheim