Das Gewicht der Versöhnung
Ansprache des Bischofs zur polnisch-niedersächsischen Partnerschaft
Auf dieser Feier, 10 Jahre polnisch-niedersächsischer Partnerschaft, liegt Gewicht. Man wird wohl prima facie einwenden wollen, nun seinen 10 Jahre angesichts einer über 1000jährigen polnisch-deutschen Geschichte nicht eben viel, und in den räumlichen Dimensionen des Regionalen vielleicht auch nicht zu hoch zu veranschlagen. – Ich widerspreche: Auf diesem kleinen Jubiläum liegt Gewicht und möchte dies politisch und theologisch begründen.
Für eine Politik der Erinnerung und Versöhnung
Die niedersächsisch-polnische Partnerschaft hat Gewicht, denn sie ist Gegengewicht. Gegengewicht zu einer deutsch-polnischen Geschichte, die von Fühllosigkeit, von Leid und himmelschreienden Katastrophen durchzogen ist. Deutschland und Polen – das war, nach der friedlichen und fruchtbaren Epoche vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, für bald 250. Jahre eine Unglücksachse der europäischen Geschichte. Man muß an die drei Polnischen Teilungen – 1772, 1793, 1795 – erinnern, die für 120 Jahre das polnische Staatswesen zerstört haben. Maria Theresia hat hand-schriftlich an den Rand des Teilungsdekrets geschrieben: "Placet, weil so viele große und gelehrte Männer es wollen. Wenn ich schon längst tot bin, wird man erfahren, was aus dieser Verletzung von allem, was bisher heilig und gerecht war, hervorgehen wird." Wir haben es erfahren.
Angeheizt von nationalistischen Geschichtsschreibungen auf beiden Seiten, wissenschaftlich getarnten Brunnenvergiftungen, wurden über Generationen Mentalitäten der Feindschaft geprägt. Auf polnischer Seite eine tiefe anti-deutsche Stimmung angesichts des bedrohlichen deutschen "Drangs nach Osten". So in einem polnischen Sprichwort: "Solange die Welt ist, wird der Pole dem Deutschen kein Bruder sein." Auf deutscher Seite ein Dünkel gegenüber den kleineren und geschichtlich jüngeren Völkern des Ostraums. So soll General von Seeckt, der Schöpfer der Reichswehr, erklärt haben, Polens staatliche Existenz sei für Deutschland unerträglich, für das deutsch-polnische Verhältnis gelte eben der Grundsatz: "Vita mea – mors tua."
So war denn der Überfall auf Polen als Beginn des II. Weltkriegs keineswegs einfach nur Unglücksfall der Geschichte, keineswegs nur die isolierte Tat eines einzelnen und seiner verbrecherischen Clique, sondern dieser Überfall liegt eben auf dieser europäischen Unglücksachse Deutschland-Polen, er ist das Ergebnis nationalistischer Hetze, einer unmenschlichen Ideologie, einer häßlichen nationalistischen Geschichtsschreibung. Es gab schon lange vor dem Überfall eine Latenz des Grauens. Dies aber, die Jahre 1939 bis 1945, wurden die Steigerung ins Maßlose in den Schrecken apokalyptischen Ausmaßes. Nach den Bombenangriffen auf Warschau der Terror der SS; und die Todesfabriken auf christlichem polnischen Boden: Auschwitz, Majdanek, der Aufstand im Warschauer Ghetto. Auf dieser Geschichte liegt Gasgeruch.
Aber auch dies muß gesagt werden: Es gibt ein Unrecht, das 1945 Deutsche von Polen erlitten haben, als Millionen Unschuldiger von Haus und Heimat vertrieben wurden. Es geht hier nicht um eine Bagatelle, sondern um schweres Unrecht. Auch diese Erinnerung hat sich natürlich bis heute bewahrt.
Im kollektiven Gedächtnis des polnischen und deutschen Volkes sind – jenseits aller political corectness – diese tiefen, den humanen Kern der europäischen Kultur verletzenden Risse aufbewahrt geblieben. Auch heute bleibt Versöhnungsarbeit eine erstrangige, unaufgebbare Aufgabe in der einen europäischen Gesellschaft. Und darum: Denken wir groß von dieser regionalen Partnerschaft. Diese 10 Jahre allein schon haben Gewicht. Sie sind Gegengewicht.
Gewiß, Sie mußten vor 10 Jahren nicht bei Null anfangen. Die deutsche Ostpolitik, vor allem der Warschauer Vertrag, die von Helmut Kohl konsequent betriebene Europäisierung der deutschen Wiedervereinigung und damit einhergehend eine Forcierung der Erweiterung der EU hatten das Tor geöffnet. Sie konnten aber auch anknüpfen an eine Versöhnungsgeschichte der christlichen Kirchen in unseren beiden Ländern. Sie setzte bald nach 1945 auf mühsamen Pfaden ein und erreichte einen ersten sichtbaren Höhepunkt nach 1965 in der Ostdenkschrift der EKD und in dem bewegenden Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen in den letzten Tagen des II. Vatikanischen Konzils, im Dezember 1965. Der entscheidende Satz des Briefes von Kardinal Wyszynski: "Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung." Dieses Wort wurde dann über Jahrzehnte zum ethischen Imperativ aller Begegnungen der Bischofskonferenzen, von Laienorganisationen bis hinunter in Gemeindepartnerschaften. "Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung."
Dieses gemeinsamre Wort wurde auch politisch richtungsweisend und nahm 10 Jahre vorweg, was in Willy Brandts Kniefall in Warschau in eindrucksvoller Weise sichtbar wurde. Gleichwohl blieben unsere Gespräche schwierig: die Frage der Oder-Neiße-Grenze, die Bewertung der Vertreibungen und die Behandlung deutscher Minderheiten insbesondere in Schlesien belasteten uns erheblich. Es gab und gibt eben bis heute, wenn auch vermindert, tiefsitzende Ängste und Vorbehalte. Wenn ich diesen langen Weg der deutschen und polnischen Katholiken nach 1965 bis heute noch einmal entlanggehe – und Sie wissen, daß ich mit dem unvergessenen Kardinal Döpfner später dann mit Kardinal Höffner , auf polnischer Seite mit Kardinal Wyszynski, dann mit Kardinal Glemp diesen Weg als Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, als Bischof von Hildesheim und dann für die Bischofskonferenzen der Europäischen Union (ComECE) intensiv, ich darf auch sagen: mit Herzblut, mitgegangen bin –dann scheint mir eine Erfahrung zentral, auf die ich gerne aufmerksam machen möchte: Die Mauern des Schweigens müssen eingerissen werden. Die Fragen, Erfahrungen und Befürchtungen müssen angesprochen werden können und dann intensiv verhandelt werden. Es reicht nicht die ausgedünnte, pragmatische Verständigung des Ausklammerns für kurzfristige Minimalziele. Versöhnung meint mehr. Sie gründet im christlich biblischen Sinn in Umkehr und das heißt: die Abkehr von den eigenen Ideologien, Vorurteilen, vor allem den Feindbildern. Versöhnung heißt die sympathetische Annahme der Erfahrungen des anderen. Das kostet Mühe, das erspart uns nicht Irritationen, vielleicht auch neue Verletzungen. Nur: die Gestalt versöhnten Miteinanders wird weiter reichen als die strategisch schlaue Interessengemeinschaft. Das insbesondere dann, ich sage das bewußt in Richtung Europa, wenn der ökonomische Erfolg nicht mehr so selbstverständlich ist, wie in der Vergangenheit. Die Gestalt versöhnten Miteinanders reicht weiter! – Noch einmal: Auch deshalb, nach 10 Jahren – dieses kleine Jubiläum hat Gewicht.
Für eine europäische Idee
Ich komme zur theologischen Aneignung der Bedeutung unseres kleinen Jubiläums und möchte noch einmal eine geschichtliche Erinnerung aufrufen: Im Jahre 1000 kam es zu der berühmten Begegnung zwischen Kaiser Otto III. und dem polnischen Fürsten Boleslaw in Gnesen. Durch den gemeinsamen "Akt von Gnesen", die Errichtung einer Kirchenprovinz mit den Bischofssitzen Krakau, Breslau und Kolberg wurde das entstehende Polen selbständiger Teil des Imperium Romanum. War das der erste "deutsch-polnische Gipfel"? – Man kann das so sehen. Aber dann liest man das Ereignis aus dem Blickwinkel der Nationalstaaten, ja, man unterstellt gleichsam einen heimlichen Sinn, ein Telos, der Geschichte im Nationalstaatlichen und deshalb sei dann alles Vorherige auf dieses Nationale hin zu lesen. Schaut man aber genauer hin, so war der Akt von Gnesen, die Begegnung zwischen Otto III. und Boleslaw, geleitet von der Idee (und der Politik) der Renovatio, der Erneuerung, des Imperium Romanum. Dies war also nicht ein deutsch-polnischer Gipfel, sondern ein europäisches Ereignis. Der Sinn des Imperium Romanum, der einen europäischen Völkergemeinschaft, ist ein geistlicher. Es ging nicht nur um ein Bündnis zweier Herrscher, es ging auch um ein Bündnis mit dem Heiligen.
Nun wird man zu Recht die herrscherlichen, die imperialen Züge des Imperium Romanum kritisieren müssen. Man kann auch fragen, ob nicht die Geschichte der Unterwerfungen von Stämmen und Völkern vom Imperialen ins Koloniale ideengeschichtlich vorausweist. Jedoch: es gibt im Imperium Romanum eine zutiefst humane, versöhnende Gegengeschichte: Das Imperium hat immer auch zurückverwiesen auf das Regnum, die Königsherrschaft Christi nämlich. Man tut gut daran, diesen spannungsreichen, oft verdunkelten, aber doch Zusammenhang von Imperium und Regnum in der Gesellschaftsentwicklung des Abendlandes – bis zu den Grundideen des modernen Sozialstaats übrigens – zu beobachten.
Nun zum theologischen Kern. Es geht natürlich nicht darum, Europa als blanke Wiederholung des Imperium Romanum zu entwerfen. Es geht auch nicht darum, die europäische Gestaltwerdung mit einer hochfahrenden Idealisierung zu übertrumpfen. Es geht mir schlicht um die Frage: Wie können wir, sehr wohl in der Erbschaft jenes fragilen Zusammenhangs von Regnum und Imperium, den humanen Kern Europas bewahren und zur Völkergemeinschaft ausgestalten? Wie können wir also gewährleisten, daß wir nicht nur als Franzosen, als Spanier, als Polen, als Deutsche in Europa Heimatrecht haben – sondern Heimatrecht aufgrund einer unverrechenbaren Grundüberzeugung von der Würde und Ehre des Menschen? Eine solche Renovatio des Humanum liegt, so meine ich, nach dem Schrecken des Nationalismus, noch vor uns. Das ist das Zentrum der Gestaltwerdung Europas wie damals im Jahre 1000 in Gnesen.
Aber was heißt dieses europäische Humanum genauer? Zunächst jedoch: Selbstverständlich braucht Europa eine gute Ökonomie. Selbstverständlich geht es zunächst um Arbeitsplätze; selbstverständlich brauchen wir tragfähige Sozialsytseme. Was sollte daran falsch sein? Verbinden sich Völker nicht auch durch die Erfahrung miteinander erwirtschafteten Wohlstands und sozialer Sicherheit? Dann heißt Gestaltwerdung Europas natürlich wesentlich auch, der Entwurf jener ordungspolitischen Rahmenbedingungen, die alle Menschen in Wohlstand und sozialer Sicherheit leben lassen können. Das also, was nach dem Krieg unter dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft gelungen und heute erneuert werden muß. Schon darin werden wir Europäer unsere ethischen Traditionen, Solidarität und Gerechtigkeit, neu aufrufen. Das ist auch politische Kärnerarbeit.
Aber was dann? Was ist mit dem Menschen, der unter die Räder gentechnologischer Experimente kommt? Was ist dann mit unserern alteuropäischen Begriffen vom Individuum, von Gemeinschaft, von Freiheit? Was ist, wenn alles an entschlüsselten Genen durchgerechnet ist? Was ist, wenn wir vor lauter Ökonomismus gar nicht mehr aufhören können zu siegen?
Aber was dann? Gehörte es nicht zum europäischen Humanum, zu europäischen Identität, Geschichten der Versöhnung weiter zu erzählen? Gehörte es nicht zur europäischen Identität, das Gedächtnis zu bewahren, zumal das Gedächtnis des Leidens? Gehörte es nicht zum europäischen Humanum gegen alle Rationalität das behinderte, das sterbende, das ungeborene Leben zu schützen – und zwar deshalb, weil wir uns eine Verheißungsgeschichte aufbewahrt haben, die unsere Vernunftgeschichte, diese großartige abendländische Vernunfttradition, noch einmal kritisch übersteigt? Und schließlich: Gehört nicht zu diesem europäischen Humanum, gerade auch angesichts sehr verschiedener Traditionen und Säkularisierungen, den Namen Gottes nicht aus der Verfassung zu verabschieden, weil wir nämlich die Bücher aus unseren europäischen Bücherschränken aufgeschlagen haben und in einem Buch, der Bibel, mit Kinderaugen nachgelesen haben: Der Sinn des Heiligen ist nicht zu herrschen, sondern der Sinn des Heili-gen ist, die Ehre des Menschen zu beschützen.
Wir haben unseren Kindern eine gute Wirtschaft, nicht nur Schulden zu übergeben. Wir haben ihnen tragfähige Modelle der Solidarität zu übergeben. Wir haben ihnen gerechte beteiligung an Arbeit, Wohlstand und Kultur zu übergeben. Aber wir haben auch jene europäische Identität wieterzugeben, die unsere Geschichte ist. Etwas weniger emphatisch: Wir müssen dafür Sorge tragen, daß wir das Einspruchsrecht gegen uns selbst noch haben, wenn wir uns auf Irrwegen verloren haben.
Für eine europäische Gesellschaftspolitik
Von dieser Grundlegung der Gestaltwerdung Europas her sind gemeinsame Wege zu gehen. Europa war in den vergangenen Jahrzehnten vor allem das Projekt der politischen und kulturellen Eliten, es war noch nicht ein großes gesellschaftliches Projekt. Die Kritik daran halte ich übrigens für völlig überzogen. Denn selbstverständlich müssen die Eliten vorausgehen, was sollen sie eigentlich sonst tun? Und übrigens war das bei der Entstehung der Nationalstaaten und der Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ganz genauso. Aber jetzt kommt es darauf an, daß wir Europa von den Graswurzeln her, von einer zivilen Bürgergesellschaft her aufbauen. Ich vermute stark, daß hierbei den Regionen, der Partnerschaft kleinerer Einheiten eine zentrale Bedeutung zukommt. Insofern halte ich die Entscheidung der deutschen Bundesländer, eigene Vertretungen in Brüssel aufzustellen, nicht nur staatsrechtlich, sondern vor allem gesellschaftspolitisch für außerordentlich bedeutsam. Dieses Engagement der Länder ist ein Glücksfall für die europäische Gesellschaftspolitik.
Selbstverständlich werden auch die Kirchen hier hilfreich zur Seite stehen. Wir sind durch die älteste europäische Institution, die Diözesen miteinander verbunden und konnten so den Schritt "vom Politischen zum Gesellschaftlichen" exemplarisch vorwegnehmen: von den Bischofskonferenzen (Anfang der 60er Jahre) bis hin zu Partnerschaften unserer Gemeinden, der Laienorganisationen und gemeinsamer Initiativen. Kirche war in den vergangen Jahrzehnten so also nicht nur europäische Institution, sondern auch europäische Bewegung.
Hier also, in den Regionen, wird Europa gebaut. Hier wird die Begegnung und Kooperation, jene Versöhnung und Sympathie aufgebaut, ohne die jede abstrakte Idee scheitern wird. Hier wird untermauert, was die nächsten Generationen einmal sagen werden: Die europäischen Völker sind durch ein Band verbunden. Das stärkste Band in ganz Europa ist aber das zwischen Deutschen und Polen. Es ist zu viel geschehen, als daß ich von diesem Wunsch ablassen könnte.
Dr. Josef Homeyer
Bischof von Hildesheim
Dieser Vortrag wurde gehalten am 7. Mai 2003 im Niedersächsischen Landtag aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Partnerschaft zwischen Niedersachsen und zwei polnischen Wojewodschaften.